ANDRÉ MÜLLER - EIN FRAGEKÜNSTLER UND VERZWEIFLUNGSSPEZIALIST
Ein Essay zu einer unerhörten Kunst des guten Gesprächs – Zürich, Januar 2021

André Müller mit seiner Mutter (1989)

mit Alice Schwarzer (1996)

mit Claus Peymann (1988) - Fotos © Chr. Gerstacker

Mit bohrenden Fragen, radikaler Selbstentblößung und unangenehmen Thesen zur Persönlichkeit des Gegenübers gelang es dem Interviewer André Müller (1946-2011) immer wieder von Neuem dahin vorzudringen, wo Alice Schwarzer das Politische postulierte: in den Privatwahnsinn. Mit Ausnahme der eigenen Mutter, die er 1989 für das Feuilleton der ZEIT interviewte (https://www.zeit.de/1989/40/man-lebt-weil-man-geboren-ist?), hat Müller vorwiegend die Prominenz aus Kunst, Kultur, Politik oder auch Sport befragt. Müllers Erfolg lag aber nicht allein in der Durchforschung der Seelen prominenter Maskeraden wie die von Dolly Buster, Nina Hagen, Harald Schmidt, Elfriede Jelinek, Karl Lagerfeld, Joschka Fischer, Claus Peymann oder Hildegard Knef; und auch nicht allein in der Befriedigung einer voyeuristischen Neugierde seitens des Lesepublikums. Seine Kunst entwickelte sich aus einer entscheidenden Verkehrung der gewöhnlichen Interviewsituation und einer literarisch komponierten Vermittlung seiner Interviews: So löste er die klassische Asymmetrie zwischen der Schattenfigur des Interviewers und der Rampenlichtfigur der interviewten Person auf, und stilisierte sich so in den vier Jahrzehnten seiner Karriere selbst zum Star-Interviewer. Zudem weitete er seine Echokammer als „gefährlichster und schonungslosester Interviewer im deutschsprachigen Raum“ geschickt weiter aus. Polemisch und lakonisch vervielfältigte Müller seine Marke als „Müller The Killer“ oder „Müller, der Vampir“: „In Wahrheit bin ich es, der sein Blut gibt. Ich stelle Fragen und höre Dinge, die mich gar nicht interessieren. Eigentlich sollten meine Interviewpartner dafür bezahlen, dass ich ihnen diesen Liebesdienst erweise. Ich bin ja ein bisschen wie eine Prostituierte“ (https://folio.nzz.ch/1997/juli/was-interessiert-sie-herr-muller).

Mein Interesse an Müllers Figur, seiner Stimme, seinen Texten erwachte jedoch nicht aufgrund dieser Selbststilisierungen, sondern nach meinen ersten Interview-Lektüren auf Müllers schnörkellosen Homepage, deren Gestaltung Elfriede Jelineks Mann übernahm (andremuller.com-puter.com/). Für meinen bis heute nicht abgeschlossenen dramatischen Versuch, zwei scheinbar maximal verschiedene Temperamente aufeinanderprallen zu lassen, suchte ich damals spezifisch nach den Empfindlichkeiten von Thomas Bernhard und Peter Handke: Wovor hat Handke Angst? Woran leidet Bernhard? Hat Handke Humor? Was bringt Bernhard zum Schwärmen statt zum Nörgeln? Zwar schärften die Müller-Interviews durchaus meinen Blick für das Komplementäre der beiden Poetenseelen, doch hervorgestochen ist primär die Portrait-Kunst von André Müller selbst. Ihm gelingt ein doppeltes Kunststück: Einerseits vermag er Plattitüden und vermeintlich sichere Wiederholungsschleifen einer Person sowohl präzise darzustellen wie auch aufzubrechen. Andererseits gelingt es ihm, eine Gesprächsdynamik in Gang zu setzen, die von beiden Beteiligten des Interviews ein Balancieren zwischen seelischem Abgrund und seelischem Aufatmen verlangt. So sticht im Interview mit Peter Handke augenblicklich dessen Begriffsanstrengung hervor und zugleich zeigt sich ein überraschend seltener Galgenhumor Handkes:

MÜLLER: Leiden Sie an Depressionen?
HANDKE: Nein, Schwermut ist Schwermut. Das ist ein Wort, das man durch kein anderes ersetzen kann, so wie eine Rose eine Rose ist.
MÜLLER: Die Schwermut hat Sie Ihr ganzes Leben begleitet.
HANDKE: Ja. So ist meine Natur. Als Kind wollte ich immer Melancholiker sein. Ich wollte auf einem Stein sitzen und nie mehr aufstehen. Aber das ist mir bis jetzt nicht gelungen. (...) Ich glaube, daß wir eigentlich auf einen anderen Planeten gehören, wo ein Tag samt Nacht nur siebzehn oder achtzehn Stunden lang dauert. Dadurch würde diese Zwischenzeit wegfallen, in der die Schwermut sich breitmacht. Schwermut ist ja ein viel zu schönes Wort für diesen grausigen Zustand, denn das ist ja ein Wüten im Menschen, ein Schmerz, eine schmerzhafte Lähmung, auch eine Lähmung der Sprache, die doch die Mitte des Menschen ist, seine Seele.

Ein schönes Beispiel, wie André Müller seine Kunst des Befragens, Redens, Behauptens und Schreibens perfektionierte, indem er das Tête-à-Tête stets – aus allen erdenklich schwierigen Gedankenbahnen und seichten Gemütslagen – vor dieselbe existentielle Frage stellte: Warum verzweifeln wir nicht? Diese Zuspitzung, sofern sie nicht einfach eine laxe Provokation im Abgründigen sucht, verlangte im Vorfeld jedes Gesprächs eine außergewöhnlich akribische Vorbereitung:

MÜLLER: Wissen Sie, wieviel ich gearbeitet habe, um Ihnen vorbereitet gegenüberzutreten? Einen vollen Monat, Tag und Nacht.
SCHWARZER: Ja, das sehe ich gerne. Das gönne ich Ihnen von Herzen.
MÜLLER: Ich Ihnen auch.
SCHWARZER: Es hat Sie eher aggressiver gemacht.
MÜLLER: Ist doch nicht wahr, etwas verzweifelter nur.

In Kürze zeigt diese Passage aus dem Kölner Interview mit Alice Schwarzer, wie der Verzweiflungsspezialist Müller gerade dank seiner Verzweiflungsmaskerade überraschende Gesprächsimpulse setzt. In dieser reproduzierten Künstlichkeit des stets verzweifelten Interviewers liegt sowohl der Unterhaltungs- wie Erkenntniswert von Müllers Interviewkunst:

MÜLLER: Sie sagen, Sie wollen nicht ohnmächtig sein. Ich meine, das Eingeständnis der Ohnmacht kann der erste Schritt zur Veränderung sein.
SCHWARZER: Auf jeden Fall. Immer ist die Erkenntnis der Wahrheit, also wirklich zu erkennen, was richtig ist, der erste Schritt zur Veränderung.
MÜLLER: Das Eingeständnis, daß man keine Lösungen weiß.
SCHWARZER: Ja, aber bitte, wenn Sie gestatten, nicht auf dem öffentlichen Marktplatz. Wir haben schon genug Frauen jammern sehen.
MÜLLER: Es muß ja jemand da sein, der es hört.

Vierstundenlang diskutiert Müller 1996 mit Alice Schwarzer nach Redaktionsschluss der EMMA im Kölner FrauenMediaTurm (https://frauenmediaturm.de). Im 80-seitigen Tonprotokoll dieses Abends zeigen sich diverse Facetten eines unerhört guten Gesprächs, das jede Sehnsucht an dasselbe als Vorstellung eines harmonieseligen Einverständnisduett irritieren und fragwürdig machen muss: Zumutung, Tabubruch, Provokation und Beleidigung gehören genauso dazu wie das Kompliment, der Witz oder ein ironisches Eingeständnis:

SCHWARZER: Wissen Sie, Sie leben doch in einer Zeit und arbeiten für Medien, die alles ans Tageslicht zerren.
MÜLLER: Für solche Medien arbeite ich nicht. Aber ich meine, daß Entblößung in gewissen Bereichen sinnvoll sein kann, nämlich dort, wo Macht ausgeübt wird.
SCHWARZER: Ich bin überhaupt nicht dafür.
MÜLLER: Weil Sie ein Machtmensch sind und die Macht genießen. Dagegen ist ja gar nichts zu sagen. Es begegnen sich hier ein zur Macht unfähiger Mann und eine machtvolle Frau.

Auch hier greift die Maskerade des ohnmächtigen Mannes: Der entscheidende Witz liegt aber nicht im Ohnmächtig-Sein, sondern in einer weiteren Maskerade des Verzweifelten. Mit der Verzweiflung zu spielen, heisst die Verzweiflung zu sozialisieren, sie verhandelbar und erträglicher zu machen, indem man seine Ohnmacht ausstellt und sich entblösst. Und in dieser Selbst-Entblößung steckt gerade nicht das Nackte, sondern das Unerhörte wie unüberhörbare und vertrauenserweckende Amusement von Müllers professionalisierter Interviewer-Figur: Dieser gelingt es, die seelischen Abgründe zu verwandeln, indem er den lähmenden Seelenschlammassel nicht außer Acht lässt, sondern ihm eine Form gibt. Die unerhörte und öffentliche Form von Müller als einem interviewenden Verzweiflungsspezialisten kann eine Gesellschaft nur bereichern, weil sie Vertrauen in soziale Umgangsformen mit der Negativität und Abgründigkeit des menschlichen Lebens schafft. Statt der Scheu vor den Themen wie Bedeutungslosigkeit, Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, Einsamkeit, Wahnsinn, Scheitern und Tod sucht ein/e Verzweiflungskünstler*in im Vertrauen auf Andere nach Auswegen, Ablenkungen und Abenteuer der Verzweiflung.

Doch wo bleibt dieser soziale Vertrauenskitt des Gesprächs in Zeiten von Corona, wo die Ungewissheit dem Vertrauen zuvorkommt? Gewohnheiten und Lebensstandards beschnitten sind, Gesprächs-Rituale wie Kaffeehaus- oder Kneipenbesuche wegfallen? Die einschränkenden Verordnungen machen die Vertrauensprüfung noch schwieriger, obwohl wir gerade mehr denn je auf Virolog:innen, Politker:innen und unsere Mitmenschen vertrauen müssen. Bereits vor Corona war das gute Gespräch eine Lücke – entweder blieb es im Privaten auf den Partner begrenzt oder in der Gesprächstherapie aus der Gemeinschaft entgrenzt. Das Ausmass der Lücke wird jetzt noch deutlicher, weil gerade die entscheidenden Fragen der hereingebrochenen Krise keine Antworten finden. Denn eine Krise wirft häufig zwei Fragen auf: Was ist die Ursache? Und was können wir tun? Für die erste ist die Wissenschaft zuständig, die Ursprung, Verbreitungswege und Merkmale des Coronavirus erforscht. Für die zweite allerdings sind wir verantwortlich: Sie fordert unsere Phantasie heraus, sie kreiert Hypothesen und lässt Verschwörungstheorien ins Kraut schiessen, die unser Bedürfnis nach Kausalität befriedigen und Sinnfragen beantworten sollen.
Damit sich unsere Phantasie aber nicht allein in Verschwörung, Panik, Angst und Verzweiflung verirrt, ist das gute Gespräch à la Müller ein Echoraum mit Vorbildscharakter: Es gilt das Repertoire der Maskeraden vom Panischen bis zum Verzweifelten mutig zu erweitern. Sicherlich dienen dazu die stets verzweifelten und teils selbstmordgefährdeten Figuren des schwedsichen Filmemachers Roy Andersson oder Stars wie Ricky Gervais in AFTER LIFE (UK 2019) und Frances McDormand in OLIVE KITTERIDGE (USA 2014). Doch sie genügen nicht. Müllers Texte, dazu lädt sein Nachname ein, lassen den verzweifelten Müller in uns allen entdecken und einfacher nach draussen kehren. Die Quarantäne als Spielinsel? Voller Müller-Figuren, mit denen sich mächtig – nicht ohnmächtig – spielen und reden lässt? Sie wären kein Verzweiflungszeugnis, sondern ein Zeichen einer unzeitgemäßen Gesprächskultur, die das grosse Buch der vermeintlichen Schwächen nicht zuklappt, sondern auffächert.

Gerade weil viele Menschen in dieser beunruhigenden Phase ihre Gewohnheit fortsetzen, alles und jedes zu bewerten und mit Spekulationen und Prognosen zu Corona ins kleinste Detail flüchten, statt den grundlegenden Sorgen Ausdruck zu verleihen, können die Interviews von André Müller ermutigen, das Spiel mit den eigenen Ungewissheiten aufzunehmen. Überzeugen Sie sich selber, lesen Sie oder picken Sie aus der Fülle von Müllers Interviews ein’s heraus. Zum Beispiel mit Gerta Müller, seiner Mutter – Widerspruch garantiert!

MÜLLER: Wieso hast du Phasen, in denen du mit einer Hartnäckigkeit sondergleichen darauf beharrst, das Leben sei wunderbar?
MUTTER: Weil ich es möchte. Ich möchte nicht ganz so verzweifelt sein. Ich möchte ein schönes Leben haben.
MÜLLER: Das bekommst du nicht, indem du deine Gefühle verleugnest.
MUTTER: Aber wie soll man es anders machen?
MÜLLER: Indem man über seine Verzweiflung spricht. Wenn du immer sagst, es geht dir gut, und in Wirklichkeit geht es dir schlecht, geht es dir nur immer schlechter.
MUTTER: Komischerweise geht es mir aber wirklich nicht immer schlecht.


ARCHAISCHES UNBEHAGEN

Köln (Juni 2020)

Seid ihr rotierende und auswechselbare Teilchen in der Maschine der Folgsamkeit? Oder kennt man euch als Experten einer stets revolutionären Wissenschaft, die minutiös und mikroskopisch in der Sorge um sich selbst immer auf neuen Wegen zum eigenen Wohlbefinden vorstösst? Wäre es vielleicht auch möglich, dass ihr vielmehr einer ganz alten Geschichte angehört, deren Ursprung euch nicht mehr einfallen will? Seid ihr vielleicht die Nachfahren jener ungeheuerlichen Sippschaft, welche von der Arche zwar herunterkam, aber abgründigerweise nicht dieselbe war, welche Noahs Arche gebaut hatte? Was, wenn sich damals unter die Tiere Ungeheuer mischten, was anlässlich des Durcheinanders beim Verladen leicht passieren konnte? Wäre es für die Ungeheuer nicht ein leichtes Spiel gewesen, während der Sintflut Noah und dessen Familie umzubringen, und sich nach der Sintflut als Noah und dessen Familie auszugeben? Könnt ihr das Gegenteil beweisen? Oder beruft ihr euch auf Zeugenschaft der geretteten Tiere? Hat es nicht auch ihnen, die bis dahin die menschliche Sprache beherrschten, die Sprache verschlagen angesichts dessen, was sie auf der Arche miterlebten? Erinnern euch die tierischen Laute nicht an Klagen? Vielleicht an die Anklage, dass die, die als Menschen auftreten, eigentlich gar keine sind? Beunruhigt euch diese Geschichte nicht? Beeinträchtigt sie etwa nicht eure Folgsamkeit oder euer Wohlbefinden? Auf was ruht letzteres, und welcher Arche seid ihr aufgesessen? Oder wird das Euphratwasser eines Tages etwas Neues herantragen und alles vergessen machen? Ist es euer Glück, dass auch diese Arche verschwindet?

Erschienen in: DENKBILDER Nr.35/Herbst 2014


DAS LEISE RUMOREN DER NEUGIERIGEN

Gibt es denn ein schöneres Bild für den Frieden unter den Menschen als den Lesesaal einer grossen Bibliothek? Wo das Schweigen kultischen Charakter kriegt? Das Stillwerden sich dem Verstummen annähert? Schauen Sie sich die Weite und Tiefe des Lesesaals der Nationalbibliothek an. Oder besser: hören Sie genau hin: Denn der Mensch bleibt auch in der grössten Versenkung noch ein hörbares Wesen. Ab und an hört man ein Flüstern und Husten, einen Lacher oder Seufzer, sogar ein Schnarchen, natürlich ein Blättern und Kritzeln. Und wie die nächtlich raspelnde Maus uns förmlich in den Ohren dröhnt, so begrenzt der Mausklick die Ruhe der heutigen Bibliothek: Und schnell wird aus dem sanften Gleiten über die Tastatur ein Hämmern. Zum Glück! Denn da springt das Getriebe der Neugierde an.

Text: Zum 125-Jahre-Jubiläum der Nationalbibliothek (März 2020)
Foto: Lesesaal der NB © Schweizerische Nationalbibliothek


DANEBEN GREIFEN

Die Fähigkeit der Maschine, Ordnung zu schaffen, ist bewundernswert. Aber es gibt LeserInnen, die eine ganz andere Methode schätzen. Ihr Credo: die wichtigsten Einsichten und Entdeckungen verdanken sie nicht der Forschung, sondern einer unvermuteten Richtung. Gangbar ist sie im Freihandbereich jeder Bibliothek – wie z.B. im Bücherturm der Nationalbibliothek: Neue Zusammenhänge blitzen gerade dann auf, wenn nicht wir sie, sondern die Bücher uns finden. Es sind jene Bücher, die in der Nachbarschaft des gewünschten Buches stehen, die enthalten, was die Gedanken neue Wege nehmen lässt. Man nimmt sie in die Hand, weil der Buchrücken schön aussieht, im Titel ein Wort ist, das uns bezaubert, oder die unwillkürliche Unlust auf das eben gefundene Buch die Hand zu dessen Nachbarn lenkt.

Text: Zum 125-Jahre-Jubiläum der Nationalbibliothek (März 2020)
Foto: Klosterbibliothek in Maria Laach © Emanuel Tandler


LIB(E)RI MIGRANTI

Als die Nationalbibliothek 1931 ihren heutigen Standort an der Hallwylstrasse 15 im Berner Kirchenfeldquartier bezog, hob sie sich von den umliegenden Großbauten durch Bescheidenheit und Offenheit ab. Diese Bibliothek wollte nicht einschüchtern, sondern vermitteln und unterstützen. Transparenz war auch ihr architektonisches Programm: Licht, Luft und Öffnung die Schlagworte des „Neuen Bauens“. Und heute lautet ihr Motto: „Die Zukunft ist digital. Aber das Papier bleibt“. Doch bleibt das Papier wirklich? Wollen die Buchstaben nicht aus ihren Wörtern? Die vielen Wörter nicht aus ihren Sätzen? Die Sätze nicht aus ihren Büchern? Und die vielen Bücher nicht aus ihren Regalen?

Text: Zum 125-Jahre-Jubiläum der Nationalbibliothek (März 2020)
Foto: Neubau der NB von 1931 © Schweizerische Nationalbibliothek


VOM STREICHOLZKOPF IM SAMMELSURIUM

In den Tiefenmagazinen der Nationalbibliothek lagert ein gigantisches Sammelsurium. Ein Regalbrett folgt dicht auf das nächste. Aus Platzgründen werden die Bücher stets nach Grösse geordnet; kleine stehen neben kleinen Büchern, grosse neben grossen. Diese Ordnung hat ihre ganz eigene Schönheit. erzeugt aber auch eine gewisse Beunruhigung, weil hier Aussergewöhnliches neben Ungewöhnlichem steht: Neben Johanna Spyri könnte die Vereinszeitschrift des Davoser Schlittelclubs stehen, neben Schellenursli ein romanisches Adressbuch mit den schönsten Vornamen der Welt, neben einem Foto von Friedrich Dürrenmatt und seinem Kakadu das Genfer Sexmagazin „Minuit Plaisir“, und neben einer alten Gotthard Postkarte das kleinste Büchlein der Welt: ein „Vater Unser“ mit Buchstaben kleiner als ein Streichholzkopf.

Text: Zum 125-Jahre-Jubiläum der Nationalbibliothek (März 2020)
Foto © "Trovaille" d. Schweizerische Nationalbibliothek


DAS LACHEN DER HANNAH ARENDT
Essay zur Inszenierung IN AND OUT HANNAH ARENDT

Montage © E.Tandler & Sandra Riedmair - Mai 2019

Herbst 1964, der damals junge Journalist Günter Gaus lädt die 23 Jahre ältere Philosophin Hannah Arendt zum Gespräch ins ZDF. Zum ersten Mal in der Interviewreihe „Zur Person“ richtet Gaus seine Fragen an eine Frau. Noch bevor die Zuschauer/innen begreifen, was Arendt sagt, ist klar: Da sitzt eine vor der Kamera, die anders ist: unabhängig und eingreifend. Im selben Herbst publizierte Arendt die deutsche Übersetzung ihres heftig umstrittenen Buches Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Gaus greift dieses öffentliche Wagnis auf, und fragt, ob Arendt die diversen Erregungen und Vorwürfe „schmerzen“. Konzentriert erwidert sie: „Sehen Sie, es gibt Leute, die nehmen mir eine Sache übel“, und fährt mit ihrem unverwechselbar ironischen Ton und einem sich anbahnenden Lächeln fort: „Nämlich, daß ich da noch lachen kann. Aber ich war wirklich der Meinung, daß der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: Ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen, und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut!“ Lachen? Lachen angesichts der Protokolle, die zeigen wie Adolf Eichmann als SS-Obersturmbannführer die Vernichtung der Juden organisierte und u.a. die Fahrpläne der Deportationszüge zusammenstellte? Arendts Lachen war ein Befreiendes und die Beklemmung abschüttelndes Lachen. Sie benötigte es, um den Pathos der emotional geführten Diskussion über Schuld und Verantwortung Eichmanns wieder auf eine sachliche Ebene zu zwingen. Das Lachen bildete die Brücke zwischen dem Schrecken vor der Tatsache des Genozids und der lapidaren Erkenntnis, mit Eichmann einem „beliebigen Hanswurst“ gegenüberzustehen, dem es an Tiefe, Radikalität und Dämonie fehlte. Eichmann war für Arendt der Prototyp eines führungsabhängigen, in der bürokratisierten Tötungsmaschinerie von Normen und Befehlen gesteuerten Menschen.

Das Projekt IN AND OUT HANNAH ARENDT ist einerseits eine Echokammer für Arendts Lachen und zoomt in ganz verschiedene Ausschnitte dieses legendären Interviews. Andererseits wird Arendts Denkkosmos aufgebrochen und auf’s Spiel gesetzt, indem auf der Bühnenfläche zwei neue Denkfiguren auftauchen: Elfriede Jelinek als weitere Spezialistin für abgründig Böses und Faules, Susan Sontag als freischwebende Intellektuelle zwischen Aktivismus, Glanz und Zweifel. Gemeinsam mit den Spielerinnen Annina Euling und Lena Geyer suche ich einen Perspektivwechsel, das Neu-Sehen und Neu-Deuten von Arendts Fernsehauftritt. Im Spiel ergeben sich Kontroverses genauso wie Fragen fernab der Nostalgie: Bleibt Arendt ein Vorbild, wenn Susan Sontags schwarze Mähne Denkgewohnheiten aufbricht? Oder zu welcher Art Zuhörerin wird Arendt, wenn sich auf dem Jelinekschen Motivteppich verletzende Wahrheiten gegen eine heuchlerische Welt richten? IN AND OUT HANNAH ARENDT ist ein mindestens dreistimmiges Plädoyer für die hartnäckige Suche nach einer eigenen Stimme und ein wütend-komisches Pamphlet gegen die Beschränkung des Menschen auf zweifelhaften Gehorsam, starre Geschlechterrollen und die Tyrannei seiner eigenen Befindlichkeit und Biographie.

Erschienen in: Bonner Theaterzeitung. Nr. 28 (April/Mai2019)


WER IM GLASHAUS SITZT (24.7.2016)
Ein Essay zu VW und die Tücken der Transparenz

Von der Politik bis zum Sport: Überall hört man die Forderung nach mehr Transparenz. Doch Transparenz ist mehr als das: Transparenz ist ein Versprechen geworden, mit dem Unternehmer/innen ganze Institutionen in ein besseres Licht rücken wollen. Ein leeres Versprechen? Der Fall VW.

Klinisch sauber
In Dresden steht ein eleganter Glasbau, den man leicht mit einem Museum für moderne Kunst verwechseln könnte. Runde und quaderförmige Gebäudekomponenten aus grossen Glasfassaden und Stahlstützen glänzen auf. Wenig erinnert an eine Fabrik: keine rauchenden Schornsteine, keine Werktore, kein riesiger Anlieferungsbereich für Lastwagen. Einzig die Fahnen mit dem Logo von VW weisen darauf hin, dass hier Automobile produziert werden. Den Glasbau eröffnete der Volkswagenkonzern 2001 mit dem Namen «gläserne Manufaktur» und preist ihn heute auf Englisch als «transparent factory» an. Vertikale Dominante dieser transparenten Werkstatt ist wiederum ein gläserner Autoturm, der die Luxusmodelle des VW-Phaetons regalweise stapelt und zum Verkauf ausstellt. Von Tageslicht erfüllt und klinisch sauber präsentiert sich dann auch die gesamte Fertigungslage. Was als dreckiger und lauter Fliessbandbereich bekannt war, erscheint hier dem Publikum und potenziellen Kunden sauber und transparent.

Der Schein trügt
Allein die Fahrzeuge laufen nicht vom Band, sondern werden leise von Robotern über einen Parkettboden transportiert. Passend dazu werden Karosserie und Fahrwerk des Luxsusmodells Phaeton von Monteuren in weissen Kitteln zusammengebaut. Vorbei scheinen also die Zeiten, in denen ölverschmierte Arbeiter an Karosserien herumschraubten. Im Glanz der Transparenz verschwindet jedoch schnell die Tatsache, dass sich die eigentlichen Herstellungsstätten mit Presswerk und Lackiererei weiterhin am Stadtrand befinden. Nur die Endmontage hat es ins Stadtzentrum geschafft. Doch die Dynamik des trügerischen Transparenzversprechens geht viel weiter.

Manipulierte Abgaswerte
Während VW in Dresden mit Glasarchitektur und Endmontage die Hardware transparent machte und die deutsche Ingenieurkunst vor Publikum zelebrierte, agierte man global auf der Ebene der Software äusserst intransparent und betrügerisch. Im September 2015 deckte die US-Umweltbehörde EPA auf, dass Europas grösster Automobilhersteller mit einer Motorsteuerungssoftware die Abgaswerte manipulierte. VW hatte dem als «saubersten Diesel aller Zeiten» vermarkteten Motortyp EA 189 eine Software installiert, die Schadstoff Emissionen während Testphasen herunterregelte. Im Alltagsbetrieb haben die VW-Motoren laut EPA die festgelegten Emissionsgrenzen um das 40-fache überschritten. Verkauft wurden die manipulierten Getriebe weltweit mindestens 11 Millionen Mal.

Dinge aufarbeiten – und schönreden
Der Glaube an die Transparenz hat das Transparenz-Marketing von VW jedoch nicht unterhöhlt. In einem Deutschlandfunk-Interview forderte die Bundeskanzlerin Angela Merkel anfangs Oktober 2015: «Ich hoffe, dass VW jetzt schnell die notwendige Transparenz herstellt und die Dinge aufarbeitet.» Und bereits im Dezember 2015 verkündete der neugewählte Aufsichtsrat Dieter Pötsch erneut Transparenz: Er spricht von «einzelnen Mitarbeitern», obwohl es Top-Manager waren; von einer «überschau-baren Zahl», obwohl es viele waren. Und er redet von «Regelverstoss», obwohl es Betrug war. Somit lauern im Versprechen, Missstände aufzuklären und Transparenz zu schaffen, offensichtlich genauso viele Tücken wie im Marketing mit Transparenz. Die Regel könnte also gelten: Nur weil etwas sichtbar und transparent gemacht wurde, herrscht noch längst keine Klarsicht. Geschweige denn: eine Wirklichkeit ohne Betrug.

Autor: Emanuel Tandler (Juli 2016)

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"EIN SPIEGEL UNSERER GESELLSCHAFT" -
Ein Interview mit dem Soziologie-Professor Sandro Cattacin zur Schweizer Drogenpolitik.

Sandro Cattacin © Keystone

Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression: Die Schweiz hat für ihre Drogenpolitik viel Lob erhalten. Jetzt muss sie sich weiterentwickeln, fordert Sandro Cattacin: der Genfer Soziologe über Verbotsfinger, reguliertes Kiffen und bewussten Drogenkonsum.

> Die Schweizer Viersäulenpolitik braucht dringend neue    Impulse, sagt Drogenexperte Sandro Cattacin.

> Es braucht einen Diskurs über die Abhängigkeits- und
Verbotsdebatte hinaus.
 
> In der Schweiz gibt es 500'000 Menschen, die kiffen. Darüber sollte man reden.


EMANUEL TANDLER
: Herr Cattacin, Sie sind der Meinung, dass sich aus einer drogenpolitischen Perspektive die Schweiz bereits zu lange auf den Lorbeeren der Viersäulenpolitik ausruht und es Handlungsbedarf gibt. Warum?

SANDRO CATTACIN: Die Viersäulenpolitik ist historisch aus einem Wechselspiel von Repression und Therapie entstanden. Erst das Elend am Platzspitz führte zusätzlich zu Formen der Medikalisierung: Methadon ist da das Stichwort. Es erlaubt Menschen in der Sucht, einigermassen über die Runden zu kommen. Parallel dazu etablierte sich die vierte Säule: die Schadensminderung im Sinne einer Risikoreduktion etwa durch saubere Spritzen. Auf diesem Weg hat sich die Viersäulenpolitik sehr gut eingespielt.

Was bedeutete das für die Praxis?

Polizisten nahmen nicht mehr einfach die Spritzen weg; Medizin und Therapie differenzierten sich, und man diskutierte gemeinsam über schwierigere soziale Probleme. Leider verselbständigten sich die Viersäulen mit der Zeit, so dass keine Kommunikation mehr untereinander stattfand. Besonders in der Schadensminderung existiert eine Welt, die nicht mehr über Drogen als Problem spricht, das man loswerden kann, sondern gewissermassen die Abhängigen in der Abhängigkeit einrichtet.

Hier setzt Ihre Kritik an.

Meine erste Kritik zielt auf diese abgekapselte Viersäulenpolitik. Das zweite Problem sehe ich in der Tatsache, dass die ganze Viersäulenpolitik in Bezug auf Heroin entwickelt wurde. Dies ist veraltet und müsste sich heute – gerade gesetzlich – in Richtung einer multiplen Problemlogik verschieben.

Ein anonymisierter Arzt der Psychiatrischen Uni-Klinik Zürich, der durchaus ein überzeugter Befürworter des Methadonprogramms ist, meinte in einer Schweizer Tageszeitung: «Methadon ist in einigen Fällen eher Opium für das Volk. Es stellt nicht nur den Konsumenten ruhig, es schläfert auch die Wahrnehmung der Gesellschaft ein.» Was sagen Sie dazu?

Was an diesem Zitat stimmt, ist der gesellschaftliche Zusammenhang beim Drogenkonsum, der nicht einfach auf einer individuellen Ebene existiert. Wir haben heute überall Drogen: Wir beginnen den Tag mit Kaffee und beenden ihn mit einem Glas Wein. Das sind funktionale Teile unserer Gesellschaft, in der wir am Tag leistungsfähig sein müssen und uns am Abend entspannen sollten. Das heisst: Ich trinke am Abend ein Glas Rotwein, damit ich am nächsten Tag leistungsfähig bin.

Drogen sind ein Spiegel unserer Gesellschaft.

Das waren sie schon immer, und daran hat sie bis heute nichts geändert. Drogen gehören nicht in die Abhängigkeits- und Verbotsdebatte, sondern in die wirtschaftliche und politische Debatte. Es braucht einen Diskurs, der Drogen nicht einfach als «schlecht» und «gefährlich» verkennt, sondern Drogen als Hilfsmittel, als Freude, als Freizeit und als Herausforderung anerkennt. Der Diskurs der Gefahr überschattet jedoch diese Form des Benennens und Anerkennens: gerade auch der sozio-ökonomischen Probleme.

Das Schweizer Volk hat 2008 eine flächendeckende Legalisierung von Cannabis abgelehnt und sich zugleich für das neue Betäubungsmittelgesetz ausgesprochen, das wissenschaftlich betreute Pilotprojekte zulässt. Nun sind Sie Präsident einer überparteilichen Arbeitsgruppe, die genau solche Projekte koordiniert. Welcher Logik folgen diese Pilotprojekte?

Die Abstimmung von 2008 ist vor allem interessant, weil es eigentlich nicht um Cannabis ging, sondern um das neue Betäubungsmittelgesetz, das die Viersäulenpolitik erst richtig im Gesetz verankerte. Gerade weil man diese gesetzliche Festlegung nicht gefährden wollte, thematisierte man die Kiffer-Initiative nur ungern. Obwohl bereits damals klar war, dass der Ansatz dieser Initiative politisch richtig und weiterführend ist: Auch wenn wir es geschafft haben, den Cannabis teils mit Ordnungsbussen zu entkriminalisieren, sind uns nach wie vor beim Problemkonsum die Hände gebunden.

Was tun?

Solange die 500‘000 Schweizer CannabisraucherInnen nicht aus der Illegalität und dem stigmatisierten Versteck entzogen werden, können wir präventiv auch nicht den problematischen vom unproblematischen Konsum unterscheiden. Es braucht deshalb eine Regulierung, die Cannabis nicht gewinnorientiert vermarktet, sondern in einem öffentlich geregeltem Raum bewusst konsumieren, thematisieren und problematisieren lässt. Die Kernaussage darf also nicht bei der illegalen Masse liegen, sondern im Wissen, dass wir diesen Konsum massiv in unserer Gesellschaft haben und mit ihm auch bewusst umgehen können.

Sprechen wir einen solchen massiven Konsum an: Die Uni Lausanne hat im Abwasser von Schweizer Städten nach Drogenrückständen gesucht und festgestellt, dass 8 Tonnen Kokain jährlich konsumiert werden. Hochgerechnet sind das 22‘000 Konsumierende pro Tag. Wie geht da eine Prävention sinnvoll vor?

Das Spannende an Drogen wie Kokain und Ecstasy ist ihre wirtschaftliche und mehr oder weniger auch soziale Verträglichkeit. Problematisch ist, wenn jemand zu viel oder zu früh Kokain konsumiert. Wir wissen, dass zwischen 15 und 16 Jahren der Zug bereits abgefahren ist. Da braucht es mehr als den Verbotsfinger von Lehrern und Eltern. Auch ist es wenig hilfreich, dass bis heute in gewissen Kantonen und deren Schulen nicht offen über Cannabis gesprochen wird – was natürlich das Produkt noch viel interessanter macht.

Wer könnte denn eine positive Vorbildfunktion übernehmen?

Was in der Prävention funktioniert, sind die «älteren Brüder», wie sie in Frankreich genannt werden. Die älteren Jugendlichen tragen nicht nur ähnliche Kleider und sprechen eine ähnliche Sprache, sondern geniessen auch den Respekt von jungen Peer-Groups, in denen übermässig Alkohol und Drogen konsumiert werden. Sie signalisieren nicht das Verbot, sondern dass nach einem Joint Schluss ist. Leider macht die Schweiz viel zu wenig in Bezug auf diese Vermittlergruppe. Anstatt in solche junge Menschen zu investieren, die auch andere Formen der Adrenalinsuche vorleben könnten, begnügen wir uns mit dem «Vorzeigen» eines Heroin-Abhängigen. Das funktioniert nicht. Das führt zu Ironisierung und Respektlosigkeit. Was wir heute brauchen, sind Menschen, die mitten im Leben stehen und einen bewussten Umgang mit Drogen vorleben.

Erschienen am 10. Mai 2016 bei SRF2 Kultur "Gesellschaft und Religion". Mehr zu diesem Theam klicken Sie hier >>>


IM GEWIMMEL

Zeichnung © Lisa Gerig

Mit Müh und Not und ein bisschen Hoffnung entschied ich mich nach längerem Zwiegespräch mit mir selbst, draussen nun endlich ein paar Schritte zu tun. Hätte ich da bereits gewusst, wie nutzlos und erfolglos sie ausfallen würden, wäre ich bestimmt zuhause geblieben. Doch meine angespannten Nerven, die anschleichende Verzweiflung und die spürbare Angst in einzelnen Körperregionen verlangten nach frischer Luft. Dem Lüften war ich aber bald schon überdrüssig geworden, weshalb ich ausnahmsweise und fast schon übermütig die Lenkerin des anfahrenden Trams grüsste. Ihre Richtung war mir einerlei, Hauptsache ihr Ziel war eine Station, wo Menschen im Strom verkehrten. An einer mir passend und vergnüglich scheinenden Strasse stieg ich aus, um direkt weiter ins Menschengewimmel miteinzusteigen. Anfangs dachte ich, dass einiges im Gewühl stocke, doch schnell war mir klar, dass alles ausser mir ganz ordentlich, hinter- und nebeneinander wie die Ameisen dem Geschäft nachging. Die ameisenhafte Ordnung verblüffte mich umso mehr, da ich überzeugt war, dass jeder im Geiste der Vorderste sein wollte. Sicherlich gab es überhastete Momente, und das ein oder andere leichte Rempeln war nicht zu verhindern, doch alles in allem war das Ganze seltsam still und reibungslos. Schwebten hier tatsächlich nach einem ungeschriebenen Gesetz der Höflichkeit Männer, Frauen und Kinder leise und ohne jegliche Berührung aneinander vorbei? Fragend packte mich plötzlich die Angst, dass meine eigene Planlosigkeit hier am Ende ein riesieges Durcheinander verursacht. Da ich meiner Phantasie einiges zutraute, und das ordentliche Treiben bereits als ein wildes Unter- und Übereinander vor mir sah, nahm ich sofort die nächste Tram und verschwand in der Gegenrichtung.

Erschienen in: DENKBILDER Nr.35/Herbst 2014


ZWISCHEN BÄUCHEN

Zeichnung © Lisa Gerig

Sie ist ein dünner Streifen umgeben von lauter Bäuchen. Ihr droht es durchaus, zerknüllt zu werden. Die Bäuche haben morgens studiert und wollen nach dem Kneten des aufgetragenen Lernteigs nun endlich die richtigen Teigwaren verzehren. Auch sie studiert; die vollgepackte Lerntasche am Stuhlbein verrät es. Doch ihre schmale Figur, die dünnen langen Finger, das Knöcherne der Schultern, ihre Ruhe beim Essen, die vorsichtigen Bewegungen und ihr sanfter Umgang mit Besteck und Glas wollen nicht recht in die Mittagssphäre der Studenten passen. Ihm fällt sie auf; das Zarte an ihr unterbricht seinen gewohnten Kantinentakt, von dem die Übrigen, die kauenden Mäuler, nicht weichen. Der Takt der Mehrzahl ist nicht ungefährlich. Er macht sich breit, bedrängt die Einzelne. Die Gefahr denkt er sich nicht aus, er hört sie: Neben ihm sind zwei tuschelnde Stimmen und zum Getuschel passend die empörten Gesichter zweier Studentinnen. Anfangs ein musternder Blick, dann ein Glotzen, dann ein Schielen, dann ein einstimmiges Urteil, das im vereinbarten dünnen Mitleid der Dünnen gilt. Und er? Ihre Magerkeit ist Besorgnis erregend. Er aber will weder die Empörung teilen, noch den schmalen Körper und die feinen Gesichtszüge mit Mitleid schmälern. Am liebsten will er sich mit ihr, der Ausnahme, gegen die anderen beiden Visagen verschwören. Und sie? Ist bereits aufgestanden, hat mit der einen Hand die Taschenriemen, und mit der anderen das Tablett mit leerem Teller und Glas fest im Griff. Seinem Versuch, Sympathie bei ihrem Vorübergehen zu zeigen, ist sie längst zuvorgekommen, schenkt ihm ein nachsichtiges Lächeln und verschwindet.

Erschienen in: DENKBILDER Nr.35/Herbst 2014


IN STILLE TAUCHEN

Foto © Nora Dal Cero

Für das Eintauchen in die Stille fehlen dem Text wie dem Bild das Wasser. Womöglich gelingt dies einem Akrobatiker, der sich in der Badewanne zu drehen weiss und mit einem einzigen Schwenk seinen Kopf ins Wannenwasser taucht. Man wird einwenden, dass auf diesem Weg zur Stille einem bestimmt der Überlebenswille in die Quere kommt; erste Luftblasen sind schliesslich Anzeichen genug. So bleibt die Frage, wie es für den Schreiber und die Fotografin wie auch für all jene Leser, die keine Badewanne besitzen, stiller weitergeht? Genügt der poetische Verweis auf Stiefelspuren in weisser Winterlandschaft oder der skurrile Anblick eines blätterlosen Winterzweigs mit weissen Blättern? Das Widerspenstige solcher Fragen ergibt sich aus der Tatsache, dass die Stille nicht antwortet. Ein Glück wär’s für Bild und Wort, wenn allein die Stille am Ende überrascht.

Text/Bild-Arbeiten mit der Fotografin Nora Dal Cero. November 2011.


EIN HALBES HERZ

Foto © Nora Dal Cero

Täglich wird aus mir geschlürft: Manchmal schwarz und weiss, grün und rot und gelb. Ich weiss es nicht. Ich bin farbenblind.

Warm und kalt lässt man mich stehen: Manchmal mit einem Löffel oder einem Bodensatz. Ich fühle es nicht. Ich bin gefühlslos.

Bleibt ein Bodensatz ist es ein Rest: Manchmal süss oder sauer oder bitter. Ich schmecke es nicht. Ich bin geschmacklos.

Es gibt Hände, die mich halten und wieder absetzen: Manchmal mit einem dumpfen Klang. Ich höre es nicht. Ich bin taub.

Am Morgen ist es oft still: Manchmal wird es auch laut. Menschen reden. Was sie reden, weiss ich nicht. Ich bin stumm.

Ohne Grund wäre ich keine Tasse: Zeigefinger wie Daumen schätzen mein halbes Herz: Manchmal rührt die Form vor dem Inhalt.


Erschienen in: Schaffhauser AZ, Fotografie S.14 am 9.2.2009.

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